In der US-amerikanischen Verfassung steht bezüglich der Menschenrechte: „We hold these truths to be self-evident“. Die meisten von euch werden mir sicher zustimmen, dass solche Werte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Unantastbarkeit der Würde, die Gleichheit vor dem Gesetz auch wirklich eigentlich selbstverständlich sind.
Stellt sich dann nicht die Frage, warum diese überhaupt in unserem Grundgesetz formalisiert wurden? „Das ist doch selbstverständlich“, könntet ihr sagen, „warum sollen wir das noch extra irgendwo festschreiben?“ Der Einwand ist natürlich berechtigt und verständlich. Wir schreiben ja auch kein Gesetz, dass es jedem Menschen erlaubt ist, so viel Luft einzuatmen, wie er will, oder das festlegt, ab wann ein Neugeborenes schreien darf.
Manchmal sind die Dinge aber so, dass sie für die meisten Leute selbstverständlich sind, für manche aber nur „eigentlich selbstverständlich“. Wenn man feststellt, dass das, was für die Mehrheit klar, eindeutig und überhaupt nicht diskussionswürdig ist, für andere nicht so unumstößlich ist, sollte man sich überlegen, ob man diese Selbstverständlichkeiten formalisiert. Das schränkt die wenigsten ein und macht den anderen zumindest bewusst, wo solche „eigentlich selbstverständlichen“ Punkte liegen.
Über Werte zu diskutieren, ist immer auch ein fruchtbarer Reflektionsprozess, bei dem sich auch eigentlich Selbstverständliches überdenken lässt. Machen wir uns dies bewusst, manche Selbstverständlichkeit war früher nicht so selbstverständlich; manche Selbstverständlichkeit ist nur für uns selbstverständlich; manche Selbstverständlichkeit muss teuer erkauft werden, bevor sie selbstverständlich wird.